
Disco Elysium im Test
Zusammenfassung: Mit Disco Elysium betritt ein einzigartiges Detektiv-Rollenspiel die Bühne, über das die Spielerschaft noch in vielen Jahren sprechen wird – sofern sie fit in der englischen Sprache ist. Ein komplexes und vielseitiges Meisterwerk, das sich suhlt in Drogenexzessen, intelligenten Dialogen und einer packenden Handlung. Aufgepasst, liebe Leute. Hier wird Geschichte geschrieben.
Inhaltsverzeichnis
- Ein Rollenspiel der Extra-Klasse
- Das Gesetz bin ich
- Ein Kojak für alle Fälle
- Die Welt von Disco Elysium
- Verzicht auf Kämpfe
- Rollenspiel des Jahres?
Ein Rollenspiel der Extra-Klasse
Der aktuelle Erfolg von Disco Elysium wird den einen oder anderen Spiele-Enthusiasten sicherlich überraschen. Nur die wenigsten hatten das isometrische Indie-RPG des estnischen Studios ZA/UM auf dem Zettel. Die Historie des Studios ist fast so absurd wie Disco Elysium selbst. Was als Zusammenschluss aus einer Vielzahl an Künstlern entstand, entwickelte sich zu einem 20-köpfigen Entwicklerstudio. Ziel des Studios? Ein komplexes und einzigartiges Detektiv-Rollenspiel, damals noch unter dem Namen No Truce With The Furies, zu entwickeln.
2018 wurde der Titel mit einem ersten Gameplay-Trailer in Disco Elysium umgetauft. Dabei orientieren sich die Entwickler klar an Tabletop-Spielen wie Dungeons & Dragons und an Vorbildern wie Baldur's Gate oder Planescape: Torment, bringen dabei aber jede Menge Kreativität und Individualität mit ein. Disco Elysium unterscheidet sich grundlegend von anderen Rollenspielen und kreiert einen wilden Mix aus Point & Click und Oldschool-RPG. Wer sich auf das Spiel einlassen möchte, sollte allerdings nicht lesefaul sein! Um das Phänomen rund um Disco Elysium zu erklären, fangen wir aber erst einmal bei null an.
Das Gesetz bin ich
Disco Elysium beginnt, wie für Rollenspiele üblich, im Charakter-Editor. Aber lasst euch gesagt sein: An diesem frühen Punkt im Detektiv-Abenteuer endet es bereits mit Standardkost. Zwischen einer Vielzahl an wilden Frisuren wählen, Hautfarbe oder Geschlecht bestimmen? Fehlanzeige. Mit solchen Banalitäten möchte sich Disco Elysium überhaupt nicht beschäftigen. Stattdessen wählen wir entweder zwischen drei vorgefertigten Archetypen (dem Denker, dem Sensiblen oder dem Physischen) oder erschaffen einen ganz eigenen Charakter. In diesem Fall stehen uns im ersten Schritt vier Attribute (Intellekt, Psyche, Körperbau und Motorik) zur Verfügung.
Haben wir das erledigt, dann können wir zusätzlich noch eine Fertigkeit freischalten. Die Auswahl beinhaltet insgesamt 24 Fertigkeiten, die uns kaum besser gefallen könnten. Manche von ihnen, wie Logik oder Empathie, sind selbsterklärend und ein fundamentales Werkzeug im Detektiv-Alltag. Andere sind komplexe Charakterzüge, verständlich und kreativ verpackt. "Inland Empire" stärkt unsere Vorahnungen und unser Bauchgefühl, führt aber auch laut Beschreibung zu Träumen im Wachzustand. Sich durch die riesige Anzahl an Möglichkeiten durchzubeißen, kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, vermittelt uns aber ein Gefühl von Freiheit, welches wir so schon lange nicht mehr im RPG-Kosmos empfunden haben. Spielen wir einen sehr gebildeten, intellektuellen Detektiv, dem die eigene Psyche so langsam flöten geht? Oder doch lieber den muskulösen Disco-Haudrauf, der gern Karaoke singt und in einem Sumpf aus Drogen, Partys und Alkohol versinkt? Die Wahl liegt ganz bei euch und selten war sie so individuell wie in Disco Elysium.
Hat man sich einmal für einen Charakter entschieden, dann startet man in die schön düstere Spielwelt. Dabei setzt Disco Elysium gleich zu Beginn auf eine fordernde Sprache mit viel Feingefühl für Humor und Poesie. Wir finden uns in einer schäbigen Herberge und einem noch schäbigeren Hotelzimmer wieder – Letzteres ist unsere Schuld, wie sich im weiteren Verlauf herausstellt. Unser "Held" ist nämlich am besten als Häufchen Elend zu beschreiben. Ein Trunkenbold, der mit einem monströsen Kater erwacht. Das geht sogar so weit, dass uns simple Antworten auf Fragen wie "Wer sind wir?" oder "Was ist unsere Aufgabe?" einfach nicht in den Kopf kommen möchten. Das klingt im ersten Moment nach dem klischeehaften Rollenspieleinstieg, den man schon unzählige Male gesehen hat, entpuppt sich wenig später aber als die einzig richtige Entscheidung. Die Freiheit, die uns Disco Elysium gibt, kann sich nämlich nur so richtig entfalten. Als Alkoholleiche quälen wir uns durch das Hotel, suchen unsere Klamotten zusammen und treffen am Ausgang auf unseren Kollegen Kim. Der gibt uns endlich mehr Einblick in die Situation: Wir sind ein Cop und sollen den Tot eines erhängten Mannes aufklären. Ob wir dafür wirklich der richtige Mann sind?!
Ein Kojak für alle Fälle
Im Laufe der Zeit ergeben sich langsam immer mehr Details, ein vollkommen klares Bild zeichnet Disco Elysium aber nur selten. Das ist eine der großen Stärken des Abenteuers. Bevor wir beispielsweise – wie es die Etikette erfordert – unserem neuen Kollegen unseren Namen verraten (den wir nicht wissen), spricht unsere "Konzeptualisierung" mit uns und weist uns darauf hin, dass hier und jetzt der perfekte Moment ist, sich einfach einen auszudenken. Die verschiedenen Stimmen in unserem Kopf sprechen mit uns und kreieren so dermaßen gelungene Dialoge, dass wir mehrfach innehalten mussten. Manchmal warnen sie uns vor geplanten Aussagen, an anderer Stelle wollen sie uns zu einer Entscheidung verführen oder analysieren das Verhalten unseres Gesprächspartners. Disco Elysium ist nicht vollkommen vertont. Die ersten Sätze eines Gesprächs zwar schon, danach ist aber Funkstille. Die Sprecher gefallen uns meist verdammt gut, daher wäre eine komplette Vertonung natürlich schön gewesen, ein großer Makel ist das aber nicht.
Ist unser Darsteller in der frustrierenden Fiktion anfangs noch ein unbeschriebenes Blatt, entwickelt sich durch ein gut getaktetes Krimi-Schauspiel ein tiefgreifender Charakter mit viel emotionaler Schlagkraft. Gibt es vielleicht sogar einen Grund für seinen Alkoholkonsum? Beinahe jede Figur in der Welt, ob Haupt- oder Nebencharakter, regt zum Nachdenken an − selbst nachdem das Flimmern des Bildschirmes längst erloschen ist.
Doch so toll Disco Elysium, dessen Charaktere und Dialoge geschrieben sind, einen großen "Nachteil" hat die futuristische Kapitalismus-Dystopie. Wer nicht wirklich sattelfest in der englischen Sprache ist, der tut sich schwer. Alle Dialoge sowie das User Interface sind nur auf Englisch verfügbar und mit reinem Schulenglisch könnte die Reise holprig werden. Eine Menge Holz bietet Disco Elysium also allemal, genau so auch in der Spielwelt: die sich auf einer Insel befindende Stadt Revachol.
Die Welt von Disco Elysium
Die Welt von Disco Elysium zu beschreiben, ist kein leichtes Unterfangen. In Revachol ist jede Regierungsform kläglich gescheitert, die in der Vergangenheit liegende Revolution zerbrochen und heute gilt die Stadt als Paradies des Neoliberalismus. Billige Arbeitskräfte gibt es zuhauf und der Markt allein formt und bestimmt die Gesellschaft. Im Kern ist Revachol ein Schattentheater: Es gibt viel Licht und Schatten, die große Kontraste bilden und fester Bestandteil der Spielwelt sind. Arm, prächtig, zerbrochen, entehrt, verloren und gefunden. Revachol ist alles und gleichzeitig nichts. Irgendwann war die Stadt einmal ein prunkvoller Ort – wann das war, wissen jedoch nur noch die wenigsten. Jeder einzelne Bewohner hat einen glaubhaften Zweck und eine Berechtigung, Teil des Spielinhalts zu sein. Jedes Gespräch ist ein Genuss und jedes Treffen ein Gewinn. Dabei traut sich Disco Elysium, auch ernste Themen anzusprechen. Rassismus, Politik, Gewalt in jeglicher Form sowie Drogen- und Alkoholmissbrauch und ihre Folgen sind nur einige Beispiele.
Das alles ist verpackt in einer trotz ihres Drecks wunderschönen Szenerie. Revachol erinnert an ein altes Ölgemälde und versteckt in jeder Ritze spannende Details. Jedoch nicht, wie man es von den meisten anderen Spielen kennt. Es sind nicht die Verbrauchs- und Ausrüstungsgegenstände, die uns zum Erkunden anregen, sondern die Menschen und die Gesellschaft. Sammelfreunde kommen trotzdem nicht zu kurz. In Revachol gibt es nämlich auch Ausrüstung und Objekte zu finden. Kleidungsstücke beeinflussen durch Boni unsere Fertigkeiten und unsere Außenwirkung, Heilgegenstände retten uns vorm Tod und Drogen stärken unsere Gewinnchancen für einen gewissen Zeitraum. Richtig gelesen, das Spielprinzip von Disco Elysium beruht nämlich auf prozentualen Wahrscheinlichkeiten.
Verzicht auf Kämpfe
Disco Elysium verzichtet beinahe vollkommen auf Kämpfe. Zwar kommt es durchaus in der einen oder anderen Situation zu physischen Aktionen, deren Erfolg wird aber, wie auch bestimmte Dialogoptionen, durch eine Wahrscheinlichkeit bestimmt. Das Grundkonzept erinnert an Pen&Paper-Abenteuer. Unsere Fertigkeiten, Attribute, Entdeckungen und auch unsere Kleidung entscheiden über Erfolg oder Misserfolg. Die Verlockung des Spiels, durch penibles Speichern und Neuladen Gespräche so oft durchzuexerzieren, bis sie endlich den ersehnten Verlauf nehmen, könnte man kritisieren. Da es aber stets in der Hand des Spielers liegt, wie sehr er mit der Immersion brechen möchte, verzichten wir darauf. Außerdem ist Scheitern nicht das Ende der Welt. Oft eröffnen sich uns erst dadurch interessante neue Möglichkeiten.
Ein zusätzliches Spielsystem ist das Gedankenkabinett. Während der rund 50-stündigen Spielzeit stolpern wir immer wieder über "Gedanken". Jene können wir im Menü aktivieren und mit ein wenig Zeit "zu Ende denken". Solche Gedanken können uns mit Boni und Fähigkeiten belohnen, aber ebenfalls "bestrafen". Negative Einflüsse sind also durchaus möglich. Eine Warte- oder Meditationsmöglichkeit gibt es übrigens nicht. Disco Elysium hat einen strikten Zeitplan. Zu Bett gehen können wir erst ab 21 Uhr, mit manchen Leuten Kontakt aufnehmen nur, wenn wir uns an ihren Zeitplan halten. Die verschiedenen Einzelteile bilden eine hochkomplexe Spielwelt, die sich wunderbar lebendig anfühlt. Toll!
Rollenspiel des Jahres?
Disco Elysium wirbelt jede Menge Staub im Rollenspiel-Genre auf. Dermaßen tolle Dialoge & Charaktere und eine so komplexe Welt haben wir schon lange nicht mehr im Spiele-Kosmos gesehen und die Freiheit, die die Entwickler den Spielern geben, ist einzigartig. Gleichzeitig sollte man sich aber dessen bewusst sein, dass ein Großteil des Abenteuers aus Lesen besteht und die Texte in anspruchsvollem Englisch geschrieben sind. Wer darauf keine Lust hat, für den ist das Spiel nicht geeignet. Am Ende bleibt nur zu sagen: Wer sich auf Disco Elysium einlässt, der wird mit einem der besten Spiele seit Langem belohnt. Punkt.
Disco Elysium
Pro
- Großartig geschriebene Dialoge
- Spannende Handlung, die bis zum Ende fesselt
- Hoher Wiederspielwert
- Eine hochkomplexe und vielschichtige Spielwelt
- Ein einzigartiger Mix aus Oldschool-RPG und Point & Click
Contra
- Sehr viel Lesearbeit
- Nur auf Englisch, zusätzlich sehr anspruchsvolle Sprache
- Mehr Vertonung hätte die Präsentation verstärkt & zugänglicher gemacht